Brigitte Seidel „Binweben – Tastsinn einer Kindfrau“, rezensiert von Sylvia Tornau:

Diese 91 Seiten kurze Erzählung von Brigitte Seidel ist auf den ersten Blick ein leichtes Buch, sowohl vom Umfang als auch von der einladenden optischen Gestaltung. Doch das Optische täuscht. Inhaltlich bewegt sich dieses Buch auf dem schmalen Grat Leben zwischen menschlichen Tragödien. Absturzgefährdet liest man sich an den Abgründen des Daseins entlang, die da heißen: Verlassen werden, Tod und Selbst(er)findung. Vor diesen Abgründen stehen wir alle früher oder später, mehr oder weniger häufig. Für uns alle geht es in diesen Situationen darum, das eigene Gleichgewicht zu halten. Nicht in den Abgrund zu stürzen, sondern auf dem schmalen Grat den eigenen Weg auszubalancieren.

Die Erzählung beginnt auf einem Bahnhof. Die Protagonistin wird von der Mutter dort mit einem Koffer ausgesetzt. Mehr erfahren wir über die Mutter nicht, so drängend wir es vielleicht auch erfahren möchten. Aber das wäre eine andere Geschichte und die Autorin Brigitte Seidel erzählt konsequent nur die Geschichte der Ich-Erzählerin.

In einem Heim aufgewachsen (auch das wird nur angedeutet), verbringt die Protagonistin ihre Ferien bei Tante Luzy, der Schwester der Mutter. Die Tante ist, und bleibt bis zu ihrem Tod, für die junge Frau die einzige Verwandte und wichtige erwachsene Bezugsperson. Die eigentliche Erzählung beginnt auf S. 12, während einer Preisverleihung für junge Künstler.

Die Ich-Erzählerin – sie hatte zu diesem Zeitpunkt ein Libretto mit den „dazugehörenden Grundmelodien ohne die Partituren“ bei einem Wettbewerb eingereicht – lernt hier Maggy kennen. Maggy, eine junge preisgekrönte Komponistin, wird die künftige Mitbewohnerin in der gemeinsamen WG. Zwei junge Frauen, von Einsamkeit umhüllt, die ihr Leben füllen mit Beobachtungen, Musik und Spaziergängen, immer auf der Suche nach dem Eigenen. Dem Platz im Freundeskreis, den Platz im Leben der jeweils Anderen, den Platz im eigenen Leben.

Gestorben wird viel in dieser kurzen Erzählung. Neben Tante Luzy gibt es noch den Selbstmord eines Freundes und am Ende, ganz so als müsse es sein, stirbt auch Maggy.

Viele Fragen wirft die Autorin mit dieser Erzählung auf und nur wenige davon beantwortet sie selbst. Mit ihrer dichten Sprache webt sie eine Atmosphäre, in deren Sog die Leserin ihre eigenen Antworten klingen hören kann, wenn sie es denn möchte. Es ist einfach, sich dieser Erzählung zu verschließen, aber die Wirkung im eigenen Inneren ist großartig, wenn man sich darauf einlässt. Ein leises Stück Literatur, das gefangen nimmt und die Leserin sich ein Stück näher rücken lässt.

Es ist der Autorin Brigitte Seidel geglückt, die Leserin mit auf die Reise zu nehmen, ihr die Abgründe des Daseins nahe zu bringen, ohne sie hineinzustoßen. Am Ende, wenn sich der Leidensweg der Protagonistin schließt, öffnet die Autorin den Blick ins pralle Leben mit einem Epilog, wie er hoffnungsvoller und literarischer nicht sein könnte. Eine sehr gelungen Sinnsuche. Sehr empfehlenswert.

Brigitte Seidel „Binweben – Tastsinn einer Kindfrau“, Geest Verlag 2011, 91 Seiten, 10 Euro (auf Amazon)