In meinen Seminaren greife ich stets zu Beginn einer Lehreinheit zum Thema „verbale Kommunikation“ ein Zitat des Kommunikationswissenschaftlers Thomas Gordon auf. Er sagt:
„Wir sehen den anderen, mit dem wir reden, durch eine Brille.“
Das heißt, es gibt bestimmte Faktoren, die bestimmen darüber, was wir sehen. Gordon macht für gelingende Kommunikation Faktoren ausfindig wie Empathie und Bejahung.
Mit Empathie ist die Fähigkeit gemeint, sich an die Stelle anderer zu versetzen und ihre persönliche Bedeutungswelt zu verstehen.
Indianer haben dafür ein besonders schönes Bild. Sie sagen, dass man in den Schuhen (Mokassins) des anderen einige Kilometer gegangen sein muss.
Schaut man sich die sozialen Medien an, sucht man diese Empathie großen Teils vergeblich (paradoxerweise steht da „sozial“). Es geht darin häufig vielmehr um Selbstdarstellung, Polemik und Hasstiraden. Die Demos in vielen Städten derzeit gegen Rassendiskriminierung sind einerseits sehr ermutigend, aber sie zeigen auch, wie notwendig sie geworden sind angesichts einer sich zugespitzten Verrohung verschiedener Gesellschaftsgruppen (und angesichts von Machtmissbräuchen gesetzgebender und ausübender Personen staatlicher Gewalt).
Die Demonstrant*innen solidarisieren sich mit den Leidenden (ausgelöst durch ein Video, das polizeiliche Gewalt an George Floyd, an der er schließlich stirbt, zeigt). „BLACK LIVES MATTER“ halten sie auf Transparenten hoch. Und ja, schwarzes Leben zählt. Für Gott sowieso. JEDES Leben zählt für ihn ungeachtet der Hautfarbe, Herkunft und des Geschlechts. Um dies zu demonstrieren ging er in den Schuhen von Menschen, sah sie mit einer Brille der Liebe an (nein, wahrlich nicht mit einer rosaroten) und will diese Brille uns Menschen aufsetzen (nicht aufzwingen), damit wir Zugang zu seiner persönlichen Bedeutungswelt bekommen. ER will es und wartet darauf, dass wir sie tragen wollen.
Stellen Sie sich einmal vor, alle Menschen dieser Welt würden diese Brille aufsetzen; es würde keinerlei Demos mehr gegen Rassismus, Hass und Gewalt bedürfen.
Herzlichst, Ihre Brigitte Seidel