Mit dem folgenden Text hat Brigitte Seidel den ersten Platz beim „Goldstaubwettbewerb 2020“ der Autorinnenvereinigung e. V. gewonnen:


Die Stiefel Ihres Vaters

Rahel beeilte sich mit dem Hinaushängen der Wäsche. Mit der Mittagssonne musste sie getrocknet sein. Danach würde sie keiner mehr abnehmen, bevor sie wieder klamm würde.

„Vater wird mich wieder nicht rechtzeitig weggehen lassen. Er wird, wie jedes Mal, eine seiner Verzögerungstaktiken aufbieten, um mich am Gehen zu hindern, und dann bleibt mir nur der letzte Bus“, dachte sie. Sie nahm den leeren Korb und ging zurück ins Haus. Beim Durchqueren des Flures fiel ihr Blick auf seine Stiefel. Sie würden sich nie mehr wegbewegen lassen, außer von ihr, wenn sie den Boden putzt. Sie setzte sich auf den Schemel neben den Stiefeln, nahm einen Staublappen aus der Schublade in Kniehöhe des Putzschranks und wischte sanft über das raue Leder der Stiefel, so als würde sie seine wunden Füße einbalsamieren.

Ihr auditives Gedächtnis holte das Geräusch der Schritte zurück, wenn er nach Hause kam. Sie sah sich diesen Film ihrer Erinnerungen an. Dabei schnitt sie ihn zurecht, legte die Sequenzen die „nichts geworden waren“ in die Kiste mit dem Abfallmaterial ab, klebte die anderen Enden so zusammen, dass ein beinahe lustiger Film entstand.

Sie sah die vertrauten Stiefel auf sich zukommen, wie sie dann neben ihr im Schmutzwasser einer Pfütze zum Stehen kamen, wie der Geruch von Matsch und Leder sich vermischte und zwei starke Arme sie schließlich daraus emporhoben. Sie saß kurze Zeit später neben ihm auf der Veranda, spuckte fröhlich auf die Fußspitze eines Stiefels, wischte mit einem Lappen den dunklen Brei von der Oberfläche und wiederholte das Ganze so oft, bis der dunkle Brei verschwunden und nur noch ihre milchig schaumige Spucke darauf zu sehen war. Sie bemühte sich, einen Knoten aus dem grauen Schnürsenkel zu lösen. Vater zeigte ihr den Trick mit der Außenzinke einer Gabel. Seitdem hatte sie immer eine Gabel in der Tasche, ständig mussten irgendwelche Knoten gelöst werden.

Gegen Ende des Films sah sie zwei Männer in Polizeiuniform vor ihrer Haustüre stehen, hörte sie nach ihrem Vater fragen, sah wie er im Flur mit der linken Hand den Stiefelknecht griff und ihn zwischen Ferse und Schaft klemmte. Sie hörte wie sein Fuß mit diesem leisen „Plopp“ auf der Innensohle landete, sah wie er seinen Hut vom Haken nahm, spürte wie er ihr einen Kuss auf die Wange drückte und dann sagte: „Ich bin bald wieder zurück, sag Mama, sie soll nicht mit dem Essen auf mich warten.“ Jakob sagte das auch immer mal wieder, wenn er von Freunden zum Spielen abgeholt wurde. Und diese beiden Männer waren sicher Vaters neue Freunde. Die hatten sich zum Spielen Polizeiuniformen ausgedacht, keine Indianerkostüme oder Cowboyhüte und -stiefel, wie Jakob und seine Freunde sie abwechselnd trugen.


The Boots of her Father

Rahel hurried to hang out the laundry. It had to be dry by the midday sun. After that no one would take it down before it got damp again.

„Father is not going to let me leave in time again. Like always, he is going to use one of his delaying tactics, to keep me from leaving and I will have to take the last bus“, she thought. She picked up the empty basket and went back inside. As she walked through the hallway her glance fell on his boots. They were never going to get moved again, except by her, when she was cleaning the floor. She sat down on the stool next to the boots, took a rag out of the knee-high drawer of the cleaning cupboard and gently wiped over the coarse leather, as if rubbing his sore feet with ointment.

Her auditory memory retrieved the sound of his steps, as he came home. She watched the movie of her memories, edited it, put the rejected scenes in the box with the scrap parts and cut the remaining ones to almost create a funny film.

She saw the familiar boots coming towards her, how they came to a stop in a puddle of dirty water, how the smell of mud and leather mixed and two strong arms picked her up. Shortly after, she sat next to him on the porch, spit joyfully on the caps of his boots, wiped the dark paste off the surface with a rag and repeated that process until that dark paste was gone and there was only her foamy spit left. She tried hard to loosen the knot in his grey laces. Father showed her this trick with the outer prong of a fork. From that point on, she always carried a fork with her. There were always knots to loosen.

Towards the end of the film, she saw two men in police uniforms standing in front of the door, she heard them ask for her father, saw him in the hallway reaching for the boot jack with his left hand and wedging it between his heel and the bootleg. She heard the little „plop“ as his foot met the inner sole of the boot, saw him take his hat from the rack and felt his kiss on her cheek as he said: „I will be back soon. Tell your mom not to wait up with dinner.“ Jakob would also say that from time to time, when his friends picked him up to go play. And those two men were surely father’s new friends. They came up with police uniforms instead of Indian costumes or cowboy hats and boots, like Jakob and his friends would take turns wearing.

Translation: Tim Seidel


Die Badische Zeitung hat am 11. Dezember 2020 über die Auszeichnung berichtet. Der Beitrag stammt von Beate Zehnle-Lehmann:

„Schreibblockaden kenne ich nicht“, sagt die Autorin Brigitte Seidel, die sich kürzlich über den ersten Platz beim „Goldstaubwettbewerb“ der Autorinnenvereinigung freuen durfte. Die Wahl-Seelbacherin spannt einen weiten Bogen in ihrer literarischen Tätigkeit, die von Librettos für Musicals bis hin zu Kabarett, Kurzgeschichten und Büchern reicht. Sechs Jahre lang schrieb sie für die Badische Zeitung Rezensionen.

Brigitte Seidel stellt sich in ihrer Vita als diplomierte Sozialpädagogin, freie Autorin und Kabarettistin vor.

Tatsächlich reicht ihr Wirkungskreis in viele literarische Bereiche, deren Grundthematik sie selbst als „Beziehungen in politischer, sozialer, emotionaler und religiöser Bandbreite“ beschreibt. Seidel wollte schon als Jugendliche Schriftstellerin werden, erzählt sie. Das liege wohl in den Genen, denn ihr Vater war Schauspieler und Intendant. Nach dem Studium in Freiburg arbeitete sie in sozialen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, war in der Arbeit für Menschen mit Behinderung und in der Schulsozialarbeit tätig.

1997 erschien ihre erste Publikation, ein Libretto für das Kindermusical „Als die Tiere Schule machten“. Die Liste ihrer Veröffentlichungen setzt sich bemerkenswert fort, ihren ersten Literaturpreis erhielt sie 2002 von Salonline für ihre Kurzgeschichte „Zerrinnerungen“, die sich mit Rechtsextremismus und Rassismus auseinandersetzt. Danach folgte sehr schnell die Einladung zur Autorinnenvereinigung, verbunden mit einer Auszeichnung für „Zu viele Hunde im Dorf“. Zu den Erfolgen zählt die Autorin auch ein Stipendiat 2003 in der „Künstlerwohnung Waldmühle“ in Soldau und die Einladung zum Leipziger literarischen Herbst mit ihrem Werk „Ich warte am Jakobsbrunnen“.

Die Themen Rechtsextremismus und Antisemitismus „brennen mir seit Jahren unter den Nägeln“, sagt Brigitte Seidel, weshalb sie diese 2007 zu ihrem Schwerpunkt machte und Projekte für Schulen entwickelte. Seit 2013 übersetzt sie außerdem Behördenbriefe, Gesetzestexte oder Firmenbroschüren in einfache Sprache. Ihre Überzeugung sieht Seidel tief verankert in dem Maßstab, ganz genau hinzusehen, um Dinge wirklich beurteilen zu können. Damit verbunden sei, dass man immer die Bereitschaft haben sollte zu der Sichtweise, dass „der andere Recht haben könnte“, betont sie.

Ihr Hauptmotiv zu schreiben sei, eben dieses genaue Hinsehen mit Literatur zu verwirklichen. Ihre Intention sieht die Autorin im Gewicht des sozialen Miteinanders, deshalb zitiert sie gerne Martin Buber: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Durch berufliche Stationen in Offenburg und Lahr kam die dreifache Mutter vor zehn Jahren nach Seelbach: „Dieser Gegend gehört mein Herz“, sagt sie.