Noch immer gebiert Rahel im Sterben
Ihr Atem schwebt über den Gräbern der Söhne
Und hofft, dass wenigstens einer entkommt

Und will sich nicht trösten lassen
Umsonst hat sie geboren

Es war einer jener gewöhnlichen Frühlingstage an denen Menschen sterben (der Tod macht selbst vor dem Frühling nicht halt):

* (Juni 1934 in Tel Aviv)
Jetur zog einen geliehenen Leiterwagen über den arabischen Markt in dem Ansinnen seine Dienste als Lieferjunge anzubieten. Von den einheimischen arabischen Jungen wurde er jedoch als unerwünschte Konkurrenz angesehen. In dem Konflikt, der sich dadurch entzündete, mit Fäusten und Steinen niedergeschlagen wurde, Platzwunden und zerrissene Hemden hinterließ, spiegelte sich die spannungsgeladene Koexistenz von Juden und Arabern wider.
Jetzt saß er an einer Mauer gelehnt, wischte sich das Blut mit der Zunge von der aufgeplatzten Lippe und blickte erschöpft über die von tausenden verschiedenen Obst- und Gemüsesorten belagerten Stände, die ihre fruchtigen Düfte verströmten und plötzlich war er sich sicher, dass er – egal, wie viele Schläge er dafür noch einstecken würde müssen – all seine Kräfte aufbieten würde, um einen Traum zu erfüllen, den Juden schon so viele Jahre in aller Welt träumten. Ein eigener jüdischer Staat würde in diesem Land blühen, Wüsten würden zu fruchtbarem Land. Frauen und Kinder sah er vor seinem geistigen Auge, wie sie singend Orangen pflückten, Körbe über Lastwagen ausschütteten, abends in ihre Häuser zurückkehrten, mit ihren Familien feierten, ohne dass irgend jemand sie behelligte.
„Wo bist du zu Hause?“ fragte eine Frauenstimme jetzt mitten in das Stimmengewirr des Marktgeschehens. „Sie hat Mandelaugen wie Zeruja“, war das Erste, was er dachte, als er in das dazugehörige Gesicht blickte. Die Erinnerung an das letzte gemeinsame Gespräch vor wenigen Wochen am Bett seiner kranken Schwester wurde wach, ihr Versprechen nachzukommen, wenn sie wieder gesund sei. Die Frau nahm ein Tuch aus ihrer Rocktasche und drückte es auf die Platzwunde auf Jeturs Stirn, ohne eine Antwort abzuwarten oder erneut Fragen zu stellen.
„Komm“, sagte sie, als hätte sie einen ihrer Söhne nach einem verlorenen Kampf aufgefordert mit nach Hause zu gehen. Jetur folgte ihr wie ein gehorsames Kind (……)

Tel Aviv an irgendeinem Frühlingstag
Machir befand sich auf dem Weg zum Hotel. Er fuhr an Plätzen vorbei, die er so gut von Postkarten her kannte. Die Starre der fixierten Bildausschnitte war plötzlich aufgehoben, als würde man einen angehaltenen Film weiterlaufen lassen und die Dynamik des Verkehrs und der Menschen freigeben. Kurz vor dem Hafen stieß er auf Absperrungen. Eben dachte er noch, dass Tel Aviv eine ewige Baustelle sei, als er im nächsten Augenblick Blaulichter israelischer Polizei- und Sanitätsfahrzeuge sah. Er stieg aus, um zu Fuß näher an das Geschehen heranzukommen. Eine Menschenmenge rannte aufgeregt zu der Stelle, die „Ziel eines Anschlages“ nach Aussage eines Polizisten war, der jetzt darum bemüht war, Neugierige davon abzuhalten, die Absperrungen zu übertreten. Machir war auf einmal klar, dass ihn dieses Ereignis unmittelbar betreffen könnte, dass seine Mutter sich möglicher Weise unter den Verletzten, oder gar Toten befinden könnte. Genaue Klarheit würde er erst später erhalten, wenn erste Ermittlungen eingeleitet wären. Zum ersten Mal wünschte er sich, seine Mutter hätte sich aus irgendeinem Grund verspätet und würde, wie er, an einer Absperrung warten, um zu erfahren, was vor kurzem hier passiert sei. Er ging zu seinem Auto zurück und schaltete das Radio ein. Es verkündete nur das Wetter der kommenden zwei Tage, dann folgte israelische Musik. (……)